Appell an den Hessischen Sozialminister Kai Klose, an den Hessischen Kultusminister Prof. Dr. Alexander Lorz sowie an die Kommunen in Hessen:

Der Ausbau der Ganztagsbildung, der seit den 2000er Jahren in Deutschland stetig vorangetrieben wird, erreicht mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung ab dem Schuljahr 2026/27 einen neuen Höhepunkt. Dieser Initiative des Bundesgesetzgebers lagen zahlreiche wohlbegründete sozial- und arbeitsmarktpolitische Überlegungen zugrunde.

Gleichzeitig hat diese Entscheidung eine besondere Tragweite für das zukünftige Aufwachsen von Kindern in unserer Gesellschaft. Denn die geplante Ganztagsförderung im Grundschulbereich wird die Lebenswelten vieler Kinder tiefgreifend verändern. Der frühkindliche und kindliche Alltag ist schon heute durch den Ausbau von U3-Betreuung und Kita-Plätzen stärker als früher von institutioneller Betreuung geprägt. Mit der Einführung einer flächendeckenden Ganztagsbetreuung wird diese Entwicklung weiter vorangetrieben. Aktuell ist noch offen, in welche Richtung es gehen wird und ob die mit dieser weitreichenden Reform verbundene fortschreitende Institutionalisierung von Kindheit tatsächlich zu positiven Lebensbedingungen für Kinder beitragen wird. Denn zweifelsohne geht ihnen mit der Ganztagsbetreuung ein großer Teil an selbst zu gestaltender Zeit und frei zu gestaltenden Räumen verloren. Wir wissen, wie bedeutsam diese Aspekte für ein gelingendes Aufwachsen sind, welche Bildungspotentiale aus ihnen erwachsen. Insofern wirft die Gesetzesreform nicht nur Organisations- und Finanzierungsfragen, sondern vorrangig pädagogische Fragen für Jugendhilfe und Schule auf, die es zu beantworten gilt. Denn strukturell ist sie – trotz aller Vielfalt der unterschiedlichen Lebenswelten – ein bedeutsamer „Eingriff“ in die Lebensphase „Kindheit“.

Sollen anspruchsvolle Konzeptionen für den Ganztag entwickelt werden, stehen Herausforderungen an, die durchaus als historisch einzuschätzen sind und die in einer sehr kurzen Zeitspanne bis 2026 bewältigt werden müssen. Daher ist es dringend erforderlich, dass die altersgemäßen Bedürfnisse von Kindern im Grundschulalter zum Ausgangspunkt der fachlichen und politischen Debatte werden. Nur so kann es gelingen, dass der Ganztag zukünftig auch als Raum zur Entfaltung persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung sowie mit Freude und Spaß erfahren werden kann. Bei allen organisatorischen Themenstellungen und Herausforderungen, die mit dem Rechtsanspruch verknüpft sind, dürfen wir es uns nicht leisten, pädagogisch unzureichende Ganztagskonzepte zu priorisieren und die Rechte von Kindern zweitrangig werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund gilt es, das Neue gut und sorgfältig zu entwerfen, dabei das gesamte Spektrum an wissenschaftlicher und fachpraktischer Expertise einzubinden sowie die Kinder selbst angemessen zu beteiligen.

Deshalb appellieren die Unterzeichnenden an den Hessischen Sozialminister Kai Klose, an den Hessischen Kultusminister Prof. Dr. Alexander Lorz sowie an die Kommunen in Hessen: Bitte beziehen Sie die folgenden Aspekte in die anstehenden Planungs- und Entwicklungsprozesse mit ein, damit die Ganztagsförderung in Hessen ab 2026/27 zu einem gelungenen Vorhaben wird und die vorhandenen Reformpotentiale im Sinne aller Kinder genutzt werden!

  • Die ganztägige Bildung, Betreuung und Förderung muss vom Kind aus gedacht und konzipiert werden. Die Rechte der Kinder sowie ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen müssen im Fokus stehen. Ein kindgerechter Ganztag gibt Kindern neue Impulse und Anregungen, ermöglicht Bewegung und Erholung, bietet Geborgenheit und Sicherheit, eröffnet aber auch Gelegenheiten zum Ausruhen, Nichtstun und zur Kontemplation. Er hält Freiräume offen und schließt Formen altersgerechter Mitbestimmung mit ein.
  • Von Anfang an muss die Kinder- und Jugendhilfe, die einen wesentlichen Anteil an der Umsetzung des Rechtsanspruchs leisten wird, auf allen Makro- und Mikroebenen in die Konzeptions- und Planungsprozesse einbezogen werden. Denn der anstehende Reformprozess setzt eine gemeinsame Verständigung zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe über die Zielperspektiven sowie über eventuelle Bedarfe der Neuorientierung und Professionalisierung auf beiden Seiten voraus.
  • Der Ganztag muss gemäß dem SGB VIII einen Beitrag dazu leisten, dass sich jedes einzelne Kind zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann. Ferner sollen junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung gefördert und Benachteiligungen abgebaut werden, denn der Ganztag soll einen wesentlichen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Dies setzt ein hochwertiges, inklusives und kostenfreies Bildungsangebot voraus, das alle Dimensionen der sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes thematisiert.
  • Die Qualifikation des Personals muss sich an diesen Anforderungen und an den pädagogischen Grundprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe ausrichten und eigens für die Arbeit an Grundschulen konzipiert werden. Angesichts des gravierenden Fachkräftemangels muss baldmöglichst die Entwicklung von Qualifizierungs-, Fort- und Weiterbildungsformaten unter der Beteiligung von Wissenschaft und Praxis angestoßen werden.
  • Der Ganztag an Grundschulen sollte bis 14:30 Uhr gebunden und rhythmisiert sein. Der daran anschließende fakultative Nachmittag (ab 14:30 Uhr) sollte durch eine inhaltliche und methodische Vielfalt sowie durch eine Öffnung in den Sozialraum geprägt sein. Dies fördert die Trägervielfalt und eröffnet Kindern die Möglichkeiten eines facettenreichen Bildungsangebots.
  •  Kinder brauchen auch zukünftig ausreichend zeitliche Freiräume außerhalb des Ganztags. Sie müssen die Freiheit haben, jenseits von Schule selbstbestimmten Freizeitbeschäftigungen und privaten Interessen nachzugehen.

Um das große Potenzial einer kindgerechten Ganztagsbildung in Hessen zu nutzen, braucht es kreative Lösungen und eine neue Aufbruchsstimmung. Daher fordern wir jetzt umfassende landes- und kommunalpolitische Initiativen zur Umsetzung des Rechtsanspruchs im Sinne der Kinder!

Bündnispartner_innen und Erstunterzeichnende

Vollständige Liste der Unterzeichnenden:

Hessischer Jugendring e.V.
Landesschüler*innen-Vertretung Hessen
Landeselternbeirat Hessen
Ganztagsschulverband e.V., Landesverband Hessen
Liga der freien Wohlfahrtpflege in Hessen e.V.
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Der Paritätische Wohlfahrtsverband, Landesverband Hessen e. V.
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. Landesverband Hessen
Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e.V.
ver.di Landesbezirk Hessen
Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V.
LAG Soziale Brennpunkte Hessen e.V.
Frankfurter Jugendring e.V.
Kasseler Jugendring e.V.
Sportjugend Hessen im Landessportbund Hessen e.V.
Deutsche Waldjugend, Landesverband Hessen

Fachbereich Kinder und Jugend im Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau (EKHN)
Makista e.V.
Kinder in der Stadt – KidS Frankfurt gGmbH
Initiative für Kinder-, Jugend- und Gemeinwesenarbeit Ockershausen e.V.
Prof.in Dr.in Sabine Andresen, Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik, Goethe-Universität Frankfurt
Prof.in Dr.in Bettina Bretländer, Professorin für Behinderung und Inklusion, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof.in Dr.in Hanna Christiansen, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Phillips Universität Marburg
Prof.in Dr.in Isabell Diehm, Professorin für Erziehungswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt (†)
Prof.in Dr.in Wiebke Dierkes, Professorin für Theorien und Geschichte Sozialer Arbeit, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Markus Emanuel, Professor für Sozialwirtschaft, Hochschule Darmstadt
Prof.in Dr.in Cornelia Füssenhäuser, Professorin für Theorien, Geschichte und Ethik Sozialer Arbeit, Hochschule RheinMain
Prof.in Dr.in Tanja Grendel, Professorin für Soziale Arbeit in Bildungs- und Sozialisationsprozessen, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Benno Hafeneger, Professor i.R. für Außerschulische Jugendbildung, Jugendarbeit, Medien- und Kulturarbeit, Philipps-Universität Marburg
Prof.in Dr.in Verena Klomann, Professorin für Theorien der Sozialen Arbeit, Hochschule Darmstadt
Josef Koch, Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH)
Prof.in Dr.in Michaela Köttig, Professorin für Grundlagen der Gesprächsführung, Kommunikation und Konfliktbewältigung, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof.in Dr.in Gudrun Maierhof, Professorin für Methodenkompetenz und Geschichte der Sozialen Arbeit, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit, Hochschule Fulda
Prof.in Dr.in Anastasia Paschalidou, Professorin für: Außerschulische Jugendbildung/Politische Bildung/Jugendsozialarbeit/Jugendhilfe und Schule, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof.in Dr.in Regina Remsperger-Kehm, Professur für Frühkindliche Bildung, Hochschule Fulda
Prof.in Dr.in Lotte Rose, Professorin für Professur für Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit, Frankfurt University of Applied Sciences
Jochem Schirp, Vorsitzender des Fachausschusses Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit des Landesjugendhilfeausschusses Hessen 
Prof.in Dr.in Larissa von Schwanenflügel, Professorin für außerschulische Jugendbildung und Jugendsozialarbeit, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof. Dr. Werner Thole, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung, Universität Kassel
Prof. Dr. Andreas Walther, Professor für Sozialpädagogik und Jugendhilfe, Goethe-Universität Frankfurt
Prof. Dr. Stefan Weidmann, Professor für Sozialraumentwicklung und -organisation in der Sozialen Arbeit, Hochschule Fulda
Prof.in Dr.in Kathrin Witek, Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Ivo Züchner, Professor für außerschulische Jugendbildung, Philipps-Universität Marburg

Kontakt

Anfragen bitte an info@kindgerechter-ganztag.de.

Organisationen, Vereine, Verbände und Initiativen, die sich dem Appell und damit dem Bündnis anschließen möchten, sind gebeten, sich zu melden. Sie werden gern in die Liste der Bündnispartner_innen mit aufgenommen. 

Nach oben scrollen